Kongress Sucht Info Schweiz 

Referat Bern 8.11.2011

 

Renate Bichsel Bernet Psychologin und Psychotherapeutin FSP

www.atelierfuerlebensgestaltung.ch

 

 

Titel:

 

Doping im Schulalltag – wie das Doping häufig schon in Kindesjahren beginnt 

 

An Kinder und Jugendliche werden in der Schule und in der Ausbildung hohe Anforderungen gestellt. Ein ausdauerndes Arbeits- und Lernverhalten, gute Konzentrations- und Merkfähigkeiten sind die Basis einer erfolgreichen Schullaufbahn. Viele sind mit dem Leistungs- und Selektionsdruck aus verschiedenen Gründen überfordert. Lern-Aufmerksamkeits- und Verhaltensstörungen sind die Folge davon. Die Tatsache, dass Aufmerksamkeitsdefizite immer häufiger mit Methylphenidaten behandelt werden, löst emotionale und kontroverse Diskussionen aus. Ist Ritalin® ein Leistungswundermittel oder bedeutet die Einnahme von Ritalin der Einstieg in eine Suchtkarriere? Wann ist die Abgabe von Methylphenidaten sinnvoll, wann sollten im Umfeld Veränderungen stattfinden, und welche? Welches Doping konsumieren Jugendliche und junge Erwachsene, um ihre Ausbildungen erfolgreich zu bestehen? Sind Lernstress und zunehmende Anforderungen im theoretischen Fachwissen für unsere Gesellschaftsstrukturen ein Muss? Wie kann ganzheitlich mit schwierigen Lern- und Leistungssituationen umgegangen werden?

 

Referat:

 

Es wäre schade, wenn unsere Gesellschaft zwar mit extrem produktiven Wissenschaftlern, Denkern und Künstlern bestückt wäre, diese jedoch Dank Ritalin und Co. nichts anderes mehr leisten würden als gesellschaftskompatibel zu sein. 

Zitat Anna Ospelt 

 

 

Unter Doping wird normalerweise der Einsatz von unerlaubten Mitteln oder Methoden verstanden die dazu dienen sollen, die Leistung im sportlichen oder anderen Wettbewerben zu verbessern, um den Wettbewerb möglichst zu gewinnen. Diese unerlaubten Mittel oder Methoden sind meistens gesundheitsschädigend oder schalten körpereigene Warnsysteme aus, es können gefährliche bis tödliche Unfälle passieren.

Im Zusammenhang mit dem Titel meines Referates werde ich Doping etwas weiter definieren. Eher als den Einsatz von mehr oder weniger legalen oder gesunden Mitteln zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit in der Schule. 

Die Schule als Wettbewerb zu definieren, ist hart aber nicht unwirklich. Kinder, die nicht „normale“ Voraussetzungen mitbringen, um dem Leistungskatalog der Schule zu genügen, erleben nicht selten eine 9jährige Leidenszeit, mit ihnen natürlich ihre Eltern.

Das Beispiel eines 11jährigen Schülers mit einer Legasthenie (Lese-Rechtschreibestörung), der vor dem Vokabelntest jeweils bis zu 40 Grad Fieber hat, ist nur eines von vielen eindrücklichen Beispielen, die ich in meiner Praxis erlebe.

Wenn bei Kindern Doping  (welcher Art auch immer) eingesetzt wird, ist aller meistens ein grosser Leidensdruck dabei. Es kommt nicht vor, dass Eltern ihrem Kind, ohne dass sie sich dabei auch Sorgen wegen nicht erwünschten Wirkungen des Medikamentes machen, Ritalin verschreiben lassen. Für viele Eltern ist die Einnahme von Medikamenten die „ultimo Ratio“. Noch einmal, der Grund warum bei einem Kind mit zusätzlichen Mitteln oder Methoden die Leistungsfähigkeit gesteigert werden soll, ist ein Leiden, ein Leidensdruck. Wie dieser Druck entsteht, ist damit noch nicht definiert.

 

Ein Fallbeispiel, das so durchaus vorkommen könnte:

 

 

Ich nenne ihn Cedric, 6 Jahre alt, ist ein begabtes Kind. 

Er interessiert sich für alle Arten von Maschinen. 

Motorfahrzeuge, Helikopter, Feuerwehrautos sind seine Leidenschaft. Er kann mit seinen 6 Jahren perfekt den Ablauf eines Rettungseinsatzes des Rega-Helikopters nachvollziehen, weiss genau, welche Aufgaben ein Feuerwehrmann hat, bei welchem Traktor welche Landmaschine wie angehängt werden kann und so weiter. Er kann sich über mehr als eine Stunde konzentriert mit seinen Spielfahrzeugen beschäftigen. Seine Fantasie ist reich, sein Wissensdurst gross. Er zeichnet Maschinen in verschiedenen Varianten und verschenkt die Zeichnungen grosszügig.

Er wird mit 6.5 Jahren eingeschult in die 1. Regelklasse. 5 verschiedene Lehrerinnen werden ihn und seine Mitschüler- und Mitschülerinnen unterrichten in insgesamt  5 verschiedenen Unterrichtsräumen (inkl. Turnhalle). Dazu kommen die Betreuerinnen und die Räume der Tagesschule.  Der Fächerkatalog ist gegeben. 

Buchstaben schreiben lernt er zwar, fürs Schönschreiben fehlt ihm die Geduld und das Interesse, rechnen kann er im Kopf bereits alle Aufgaben im Zahlenraum 20, beim Aufschreiben bringt er die Zahlen durcheinander. Er vergisst Aufträge rasch, schaut während dem Unterricht aus dem Fenster und braucht viel zu viel Zeit für eine schriftliche Aufgabe. Beim Wechsel von einem Zimmer ins nächste vergisst er sein Etui, regelmässig bleiben seine Turnsachen in der Garderobe liegen. Er weiss zu Hause angekommen nicht mehr, welche Hausaufgaben er hätte, das entsprechende Heft ist im Schulzimmer geblieben. 

Im Unterricht kommt keines seiner Interessensgebiete vor, sein Wissen und sein Interesse sind in der Schule wertlos. 

Die Lehrerinnen sind verunsichert, haben starke Bedenken, ob Cedric den Schulstoff wird bewältigen können. Sie beschliessen zu reagieren. Nach einigen Schulwochen telefoniert die Klassenlehrerin der Mutter. Cedric sei nicht bei der Sache, er lege oft den Kopf auf das Pult, sei in Gedanken ganz anderswo, höre nicht zu und könne sich nicht konzentrieren. Er vergesse seine Sachen überall. Bei Zurechtweisungen verstecke er sich.

Ob sie bereit wäre, den Bub auf ein ADS abklären zu lassen bei der zuständigen Fachperson, der Kinder- und Jugendpsychiaterin XY? Vielleicht müsse er ja Ritalin nehmen, damit er sich konzentrieren könne. Sie mache sich Sorgen dass er den Schulstoff nicht verarbeiten könne. Die Lehrerin erwartet eine gute Kooperation der Eltern. Die Heilpädagogin werde sofort in  die Klasse kommen um mit Cedric zu arbeiten. Ihr Bericht für die Fachperson liege bereit, wann die Mutter Zeit hätte, den Bericht in der Schule zu unterschreiben.

 

Ich überzeichne in diesem Fallbeispiel die Person der Lehrerin, es passiert meiner Meinung eher selten, dass die Einnahme von Ritalin als erstes Mittel der Wahl zur Verbesserung der Situation verlangt wird. Ich möchte aber mit der Geschichte zeigen, wie ein starker Druck auf Seiten des Kindes und der Eltern schon im Kindergarten oder in der ersten Klasse durch die Anforderungen der Schule entstehen kann. 

 

Die Geschichte kann unterschiedlich weitergedacht werden, mit mehr oder weniger Leiden des Kindes und der Familie, mit mehr oder weniger Möglichkeiten der Schule, dem Kind entgegen zu kommen, mit einer besseren oder schlechteren Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern, mit einer neurologischen Abklärung, allenfalls mit einer klaren Diagnose und gegebenenfalls einer Stigmatisierung des Kindes, mit oder ohne Ritalin, mit oder ohne Unterstützung durch Fachpersonen im Bereich Heilpädagogik oder Psychologie. Es gibt sie zu Tausenden, diese Geschichte, in allen Variationen.

 

Ist es unserem Schulsystem, den Lehrpersonen gegenüber fair, einen solchen Referatstitel zu wählen, der so interpretiert werden kann, dass der Schulalltag ohne Doping nicht zu meistern ist? Impliziert nicht schon der Titel und natürlich mein erfundenes Fallbeispiel, dass die Schule oder unsere gesellschaftlichen Strukturen die Kinder nicht dort „abholen“ können, wo sie stehen und die Schule eine Leistungsfabrik ist, in der ein Teil der Kinder versagen muss, weil sie die Voraussetzungen nicht erfüllen? Gehört es andererseits unterdessen zum Bild eines normalen Kindes, dass es bei Schuleintritt ein ausdauerndes und selbständiges Arbeits- und Lernverhalten, gute Konzentrations- und Merkfähigkeiten, wenig Ablenkbarkeit, sich rasch entwickelnde Selbst- und Sozialkompetenz mitbringt, ausser, es ist ein ADS Kind, eine ADS-Lena, ein ADS-Leo, wie andere Kinder sie nennen, die Ritalin schlucken müssen, um nicht alles sofort wieder zu vergessen und weniger zu stören. 

 

Ist die Definition Schule eine Frage der Perspektive, des Vergleichs? In anderen Ländern, beispielsweise Asien, fängt die Schule morgens um 6 Uhr an, abends um 9 Uhr verlassen die Kinder die Schule. Freizeit und Spielen ist nicht vorgesehen. Auf welchem Weg sind wir?

 

Tatsache ist: Lehrer und Lehrerinnen sind mit vielfältigen Defiziten oder Schwächen ihrer Schüler und Schülerinnen konfrontiert. Da gibt es Kinder mit isolierten Lernstörungen wie Lese- Rechtschreibstörung (Legasthenie), Rechenstörung (Dyskalkulie),  allgemeine Sprachentwicklungsstörungen, Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität, motorische Entwicklungsstörungen, depressive Kinder, aggressive Kinder, Kinder aus schwierigen Verhältnissen, Kinder aus armen Familien (hochrelevant für Schulerfolg!) (Bsp 27 % der alleinerziehenden Eltern leben finanziell unter der Armutsgrenze), Kinder mit psychisch kranken Eltern, Kinder mit Erziehungs- oder Beziehungsdefiziten mit entsprechenden psychosozialen Defiziten.

 

Bei uns im Kanton Bern werden alle Kinder wann immer möglich in die Regelklasse integriert. Oder anders, härter ausgedrückt, in den Wettbewerb des Leistungskataloges, so gesehen aus der Sicht dieser Kinder und deren Eltern.

 

Aber wie sollen wir umgehen mit all diesen Schwierigkeiten in der Schule, deren Aufgabe es ist, die Kinder auszubilden?

 

Ist es dabei nicht naheliegend, dass Kinder immer mehr Medikamente oder andere Mittel erhalten, die ihnen helfen, mit sogenannt „ihren“ Problemen besser zurecht zu kommen?

Ich habe vereinzelt Klassen erlebt, in denen bis zu einem Viertel  der Kinder Ritalin einnehmen.  Es wäre ein grosser Zufall, wenn tatsächlich all diese Kinder ein POS oder ADS ADHD diagnostiziert hätten. Die Prävalenz der Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS  wird je nach Studie bei 1 bis 5 % angegeben.

 

 

Wie Ritalin oder andere Stimulanzien wirken ist längsten hinreichend bekannt.

Die Ausschüttung oder Rückaufnahme von

Neurotransmittern lassen sich beeinflussen. So hemmen

viele Stimulanzien wie Amphetamin und Methylphenidate die Wiederaufnahme von Dopamin und Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt, wodurch deren

Konzentration und damit auch die Stimulation der entsprechenden Rezeptoren zunehmen. Die Folge ist eine verstärkte Reizweiterleitung an den folgenden Nervenzellen.

 

Brigit Schmid, die einen Artikel zu einem Selbstversuch mit der Einnahme von Ritalin verfasste, beschreibt die Wirkung wie folgt:

Nach zirka Dreiviertelstunden spüre ich den Energie-Boost in Kopf und Körper. Das Herz schlägt kräftig. Es stellt sich eine Art Hochgefühl ein, die ersten zwei Stunden ansteigend, eine leicht euphorisierende Wirkung. Ich möchte aufspringen und mich bewegen, wenn mir die Arbeit am Computer nicht verlockender erscheinen würde. Erst als es nach zwei Stunden an der Bürotür klopft, schrecke ich auf. Meine Gesichtshaut spannt, ich muss regungslos auf den Monitor gestarrt haben, habe mich geistig verzahnt mit dem Text. Dass ich auf die Toilette muss, ist ein lästiges körperliches Bedürfnis. Meine Beine tragen meine Gedanken wie ein Wiesel durch den Flur, meine Gedanken haben Beine. Am Mittag habe ich leider eine Verpflichtung und muss meine wunderbare Arbeit verlassen. Während des Stehlunches mache ich intensiven Smalltalk. Bin ich zu hektisch? Wirke ich angetrieben? Ich habe das Gefühl, ich sperre meine Augen auf und verschlucke das Gegenüber beinahe, fixiert auf sein Gesicht. Blinzeln!

Abends ist es noch immer so, als zöge ein Magnet all meine Gedanken an. Als ich das Nachtessen einkaufen gehe, kreise ich nicht drei Stunden lang um die Regale, unentschieden, ob ich Tomaten oder Gurken kaufen soll. Ich weiss plötzlich klar, was ich will. 

Die Journalistin Schmid leidet nicht an der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHD. Und doch kennt sie wie wir alle Zerstreutheit und Ablenkbarkeit, das Hinauszögern einer Schreibarbeit durch andere Tätigkeiten.

 

Ihr sehr lesenswerter Artikel beschreibt, was Ritalin bewirken kann, so jemand anspricht auf das Medikament :

Die Konzentration auf eine Sache scheint der Person stärker, die Leistungsbereitschaft dadurch höher, die Arbeit erscheint machbarer, dranbleiben ist möglich, die Arbeit wird erledigt.

Ritalin nimmt man also nicht zum Vergnügen, sondern um zu leisten. Einige Fachleute sagen dazu, dass wenn gesunde Menschen Ritalin einnehmen, sie nur meinen leistungsfähiger zu sein, dies effektiv aber nicht messbar ist. Sie überschätzen ihre Leistungsfähigkeit. Dazu werden wir heute (Kongress 8.11. 2011 Suchtinfo Schweiz) vermutlich noch mehr hören.

 

Doch zurück zur Schule: Was ist also naheliegender, als den Eltern eines Kindes, das die Fähigkeiten, sich genügend auf eine Schulsache zu konzentrieren, nicht zu haben scheint und mit den entsprechenden Folgen dieses Versagens kämpft, einen Versuch mit der Einnahme von Methylphenidaten  zu empfehlen?

 

Wenn die Eltern, natürlich nach einer fachärztlichen Abklärung mit einer Diagnose ADS oder ADHD, dies dann befolgen, hat das überhaupt mit dem Stichwort Doping irgendwie zu tun?

 

Nun müssten meine Ausführungen folgen zur „Konstitution“ ADS, zu Kinder, denen es wegen der starken Symptomatik ihrer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung gar nicht möglich wäre, ohne die Medikation mit Stimulanzien eine Regelklasse zu besuchen. 

Ich kenne viele Kinder, bei denen der Einsatz von Stimulanzien kombiniert mit verschiedenen anderen Massnahmen die Schulsituation für alle Beteiligten erleichtert hat, zumindest so lange, wie die Kooperation zwischen den Eltern und der Schule optimal funktionierte.

 

Die Abgabe von Ritalin an Schulkinder hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Fachpersonen gehen davon aus, dass dies vor allem mit dem Bekanntwerden der Diagnose ADS im Zusammenhang steht. Experten betonen, dass weit mehr Menschen von ADHS betroffen sind, als tatsächlich diagnostiziert und medikamentös behandelt werden. «Wir gehen davon aus, dass zwischen einem und fünf Prozent aller Kinder an ADHS leiden», sagt Susanne Walitza, ärztliche Leiterin des Zürcher Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes. (Artikel Beobachter Sven Broder und Balz Ruchti)

 

Seit Jahren sorgt der Einsatz von Stimulanzien und damit auch die Diagnostik eines ADS oder ADHD für heftige Diskussionen unter den Fachleuten. 

Professor Schimmelmann betonte an der ADS-Tagung im Februar 2010 in Bern, dass die Diagnose ADS eine heterogene Störungsgruppe mit unterschiedlichen neuropsychologischen Defiziten heterogener Ätiologie, jedoch einem hohen Therapiebedarf seien. Diese Therapie müsse auf individuelle Symptom- und Beschwerdekonstellation zielen. Es könne eine Falle sein, ein Medikament mit hoher Effektstärke einzusetzen, weil dadurch andere Therapiemassnahmen überflüssig scheinen. 

 

Man könnte also schlussfolgern, dass es das „typische“ ADS Kind nicht gibt, also immer individuelle Massnahmen inklusive der Frage der Medikamentenabgabe zwingend sei. 

 

Der Grund, warum Kinder überhaupt in fachärztliche oder fachpsychologische Hände geraten, ist ihre „Nichtkompatibilität“ mit dem Schulsystem oder der Gruppe der Gleichaltrigen.

Dabei geht es aber nicht nur um die Frage ADS! Es gibt viele Kinder, die nicht aus Gründen eines ADHD oder ADS nicht kompatibel mit unseren Leistungsanforderungen sind:

Ein Beispiel sind die Kinder mit viel Temperament, einem starken Willen und einem grossen Interesse an sozialer Wahrnehmung. Die sich ständig mit den Machtverhältnissen in der Klasse beschäftigen, ein starkes Empfinden für Gerechtigkeit haben, allen helfen wollen, gerne kommunizieren und sich zudem gerne bewegen. Ein solches Kind fordert die Lehrkraft heraus, will Klarheit in der Klassenstruktur, braucht Führung, Anerkennung der eigenen sozialen Wahrnehmung und das offene und wertschätzende Gespräch mit der Lehrkraft. 

Oder Kinder, die musisch begabt sind, kreativ, eine blühende Fantasie haben, die Schreiben und Rechnen langweilig finden.

Auch solche Kinder werden wegen ihrer Nichtkompatibilität an das Schulsystem beim schulpsychologischen Dienst angemeldet. Der Umgang mit diesen Kindern kann tatsächlich anspruchsvoll sein, unsere Persönlichkeit ist gefordert.

 

Meiner Erfahrung nach ist ein wichtiger Punkt in der Diskussion um leistungssteigernde Medikamente folgender: Wir erwarten von unseren Kindern und Jugendlichen, dass sie sich für unser kognitives Leistungssystem interessieren und das Erreichen eines möglichst hochstehendem Bildungsabschlusses in ihr Identitätskonzept integrieren, was sie auch häufig tun! Tun sie dies aber nicht, aus welchem Grund auch immer, haben wir theoretisch die Möglichkeit, mit Medikamenten, die die Fokussierung auf einzelne Aufgaben stärken, die Ablenkung der Kinder (egal wie wichtig diese „Ablenkung“ für das Kind ist) zu reduzieren. Die schulische Leistung würde unter Umständen etwas besser, damit ist die Massnahme bestätigt. Andere Massnahmen erübrigten sich dann.

Aber wird dies in der Realität so umgesetzt?

 

Über die Zweckentfremdung von Ritalin, Modafinil (ein Wachmacher) und anderen leistungssteigernden Medikamenten wie auch von Antidepressiva ist man sich in Fachkreisen hierzulande anscheinend uneinig. Aus den USA hört man Zahlen von 7 bis zu 25 % der Studierenden, die sich mit rezeptpflichtigen Medikamenten dopen.

In der Schweiz ist das Thema Hirndoping (noch?) tabuisiert, jedoch sprechen die Zahlen der Krankenkassen für sich: so hat die Zahl der Bezüge von Ritalin, Concerta und Medikinet in der Altersgruppe der 21-40 Jährigen massiv zugenommen. Eine Hochrechnung der Helsana, bei der rund 1,4 Millionen Personen grundversichert sind, zeigt, dass im vergangenen Jahr drei von tausend erwachsenen Schweizern mindestens einmal Methylphenidate bezogen haben. Gegenüber dem Jahr 2005 sind die Bezüge um 67 Prozent gestiegen. Damit wächst der Anteil erwachsener Konsumenten im Ritalin-Markt rasant. Anna Ospelt

Für Deutschland gibt es noch kaum Zahlen, wieviele Kinder und Jugendliche sich mit Medikamenten "dopen", um ihre geistigen Leistungen zu verbessern. 

Aus http://www.br-online.de/ratgeber/gesundheit/fitmacher-medikamente-schulkinder-ID1255337508756.xml

 

Konsens: Medikamente wie Ritalin oder ähnliche werden in der Schweiz wohl (noch) eher selten gesunden Kindern verabreicht, aber gemäss Einschätzungen von Fachkreisen ( in Deutschland durch Studien belegt) vermehrt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen  eingenommen, damit sie den Leistungsanforderungen genügen können. Bei Kindern werden wohl eher „legale“ Dopings eingesetzt wie Coffein, Ginseng-, Vitamin-  oder andere „Lernpillen“ wie sie im Handel erhältlich sind. Zum Wachbleiben trinken Kinder Energy Drinks (Bsp 3 kleine Dosen bei 11 jährigem Kind entsprechen ca 12 Espresso bei erwachsenem Mann)  (Wirkstoffe Coffein, Guarana, Taurin). Zur Beruhigung werden pflanzliche und chemische Entspannungs- und Schlafmedikamente verabreicht. Viele Kinder erhalten nebst dem Schulunterricht Nachhilfeunterricht oder Lernkurse, sie besuchen Lerncamps, gehen in Therapien oder in Coachings damit sie ihre Leistung optimieren können. (NZZ: Die Kinderärzte Baumann und Alber sprechen von über 50 % der Kinder, die irgendwelche Therapien zur Behebung von schulischen Schwächen erhalten) und Belohnungs—und Bestrafungssysteme ergänzen den Katalog.

 

Ritalin ist kein Leistungswundermittel, sondern ein Medikament für die Gruppe der Kinder, die an einer relevanten Störung der Aufmerksamkeitsfähigkeit leiden! Bei ca 60 % dieser Kinder zeigen Stimulanzien eine erwünschte Wirkung.

Ritalin®  kann zur einseitigen Behandlung eines komplexen Problems eingesetzt werden, es zeigt bei vielen Kindern eine Wirkung. Dieser Effekt wiederum kann Eltern und Lehrer dazu bringen, auf weitere Massnahmen zur Verbesserung der Situation des Kindes zu verzichten. 

 

 

Zur Frage, ob die Abgabe von Ritalin eine spätere Suchtmittelkonsumation begünstige, ergeben sich folgende Argumente:

  • Die erfolgreiche Abgabe des Medikamentes hilft dem Kind, seine Schullaufbahn erfolgreicher zu absolvieren als ohne Medikament, es erlebt sich also zugehörig und leistungsfähig, eine berufliche Integration gelingt und die Kompensation durch Suchtmittel ist nicht nötig.
  • Mit oder ohne Ritalin: Bei Kinder mit einer ADS Symptomatik ist häufig der Dopamin Haushalt gestört, die Jugendlichen probieren dies mit beispielsweise der Einnahme von Nikotin zu korrigieren, also wären ADS Jugendliche allgemein gefährdeter, Suchtmittel zu konsumieren (Elternvorbild, ev ebenfalls ADS).
  • Kinder und Jugendliche, die über Jahre Ritalin einnehmen und wissen, dass sie ohne das Medikament nicht leistungsfähig genug sind, werden bei der Absetzung des Medikamentes einen anders Hilfsstoff einsetzen.
  • H. Remschmidt hat unter den Risikofaktoren für die Entstehung von Gewalt in Familien auch das Hyperkinetische Syndrom, Teilleistungsschwächen und neuropsychologische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen genannt. Der Umgang mit diesen oft psychosozial auffälligen Kindern ist in der Schule und zu Hause schwieriger, das erzeugt Spannung und Unsicherheit, dadurch kann der Selbstwert des Kindes beeinträchtig werden, was bekanntlich zu einer Kompensation durch Suchtmittelkonsum führen kann. Als Problemlösestrategie kann sich in einer Familie die Einnahme von Medikamenten oder Suchmitteln etablieren.

 

Zusammenfassend: Kinder die Schwierigkeiten haben, sich unserem Schulsystem anzupassen - aus welchen Gründen auch immer, brauchen eine massgeschneiderte Begleitung oder Therapie ( mit oder ohne den vorzugsweise temporären Einsatz von Medikamenten), damit nicht später eine Kompensation des schlechten Selbstwertes durch Suchtmittel aktualisiert wird.

 

Meine vordringliche Frage ist nicht, wie viele Kindern an einem ADS leiden, sondern wie viele Kinder sich in unserem Schulsystem wohl und anerkennt, wertgeschätzt fühlen. Und wie viele Jugendliche sich gemäss ihren Interessen und Begabungen ausbilden können? Oft mache ich leider die Erfahrung, dass Jugendliche, die in der Schule zu den weniger erfolgreichen gehören, eine schlechte Meinung von sich haben und ihre Stärken nicht kennen. Mehrmals habe ich erlebt, dass 13 bis 15 Jährige keinen einzige Stärke von sich selber nennen können. Das darf nicht sein.

 

Was Kindern und Jugendlichen, vor allem auch ADS betroffenen Kindern,  in ihrer schulischen Entwicklung wirklich hilft ist die positive Unterstützung der Eltern - (Dr. Michael Winterhof ortet in seinen Büchern beträchtliche Beziehungsdefizite der Kinder, er vermutet, dass viele Eltern die Kinder mit Rollenzuschreibungen überfordern und dadurch Erziehungsdefizite entstehen)   -

und eine gute Beziehung zur Lehrperson. Schon oft durfte ich erfahren, dass es einem Kind oder Jugendlichen in der Schule wesentlich besser geht, wenn sie das Gefühl von Akzeptanz und Wertschätzung  durch die Lehrperson erfahren. Die Leistungen werden besser, das Selbstbewusstsein steigt. Auch eine angepasste Lernumgebung, individuelle Lernstrategien, mehr Bewegung und weniger passiver Konsum (TV/PC etc) können Kindern helfen. Wichtig ist auch ein Feld ausserhalb der Schule, das Bestätigung gibt (Sportclub, oder anderes). Oft brauchen Eltern und Lehrerinnen von psychosozial auffälligen Kindern eine Entlastung und eine gute Beratung, auch Erziehungsberatung. Nicht noch mehr Druck oder Auflagen. Eine gute Netzwerkarbeit ist Gold wert, es ist eine Katastrophe für das orientierungsbedürftige Kind, wenn die Erwachsenen sich gegenseitig abwerten.

 

Eingesetzte Massnahmen, pädagogischer, medizinischer oder psychologischer Art und Weise sollten nach der Umsetzung immer ausgewertet und angepasst werden. Es ist nie vorhersehbar, wie Kinder mit einem ADS oder ADHD auf eine Massnahme reagieren.

 

 

Es wäre meiner Ansicht nach wichtig, dass wir die kognitiven Aspekte der Leistungsanforderungen in Schule und Ausbildung breit hinterfragen. Und dass die Schule strukturell und finanziell die Möglichkeit erhält,  Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen wie Legasthenie oder Dyskalkulie oder eben mit Störungen der Aufmerksamkeit entgegen zu kommen, Nachteilsausgleiche zu schaffen und ihre Fähigkeiten und Interessen wahrzunehmen. Die Lehrer und Lehrerinnen brauchen diesbezüglich mehr Zeit, und das geht nicht gratis! In diesem Bereich wäre mutige politische Entscheidungen nötig.

 

Ich erlebte, wie eine Jugendliche ihre Eltern als Rabeneltern bezeichnete, nachdem diese ihr die Einnahme von Ritalin verweigern wollten. Wenn sich die Jugendliche bei den Eltern durchsetzt, lässt sich ein Arzt oder eine Ärztin finden, die der Jugendlichen Ritalin verschreibt. Die Jugendliche kann so das enorme Pensum ihrer Ausbildung leistungsmässig unter Umständen besser schaffen. Alle Nebenwirkungen des Medikamentes (nachfolgend genannte Nebenwirkungen wurden mir von Jugendlichen mehrfach so beschrieben!) wie mögliche Einschlafstörungen, das Gefühl unter einer Glasglocke zu leben, weniger Fröhlichkeit verspüren bis hin zu depressiven Verstimmungen, ein Gefühl von „Gehetzt sein“ empfinden, Kopfschmerzen oder Appetitstörungen haben, wird sie in Kauf nehmen, sie will diesen Abschluss. 

 

Wir wissen viel über die menschliche Wahrnehmung, über Wahrnehmungsstörungen, Entwicklungsstörungen, besondere und nicht besondere Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen. Haben wir unser Schul- und Bildungssystem diesem Wissen anpassen können und wollen? Oder ist es vielleicht so, wie ich unwissenschaftlich behaupten möchte, dass unser Bildungssystem immer noch viel zu einseitig kognitiv belastet wird und das Leistungskarussell immer schneller dreht?

Warum ist der Konsum von Cannabis, Alkohol, Nikotin, Methylphenidaten, Koffein oder anderen Substanzen für viele der eher „nonkonformen“ Jugendlichen selbstverständlich?

 

Ich plädiere für mehr Wertschätzung der Persönlichkeit der Einzelnen. Dazu würde gehören, dass wir Eltern von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen oder in unstabilen Entwicklungsphasen nicht unter Druck setzen, sondern Unterstützungsmöglichkeiten anbieten, die Person und Identität wertschätzen und vom persönlichen Druck entlasten. Dies wiederum erfordert eine ganzheitliche Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen und ihren Eltern, nicht eine einseitige neurologische Abklärung mit einer einseitigen Therapie mit einem Medikament. Die Zusammenarbeit von uns Fachpersonen kann diesbezüglich in mancher Hinsicht verbessert werden. 

 

Es wäre schade, wenn unsere Gesellschaft zwar mit extrem produktiven Wissenschaftlern, Denkern und Künstlern bestückt wäre, diese jedoch Dank Ritalin und Co. nichts anderes mehr leisten würden als gesellschaftskompatibel zu sein. Zitat Anna Ospelt 

 

 

Renate Bichsel Bernet  Psychologin und Psychotherapeutin FSP

Spitalackerstrasse 63 3013 Bern 031 333 50 60 www.atelierfuerlebensgestaltung.ch